EUGEN SÄNGER UND DIE RAUMTRANSPORTER VON ÜBERMORGEN

 Mit aeodynamischen Raumtransportern ist der Name "Eugen Sänger" unlösbar verknüpft; er legte fast alle Grundlagen des modernen Raumtransporters sowohl der realisierten als auch der zukünftigen Systeme, obwohl Eugen Sänger bereits vor über dreißige Jahren gestorben ist. Somit gibt der erste Teil des Artikels einen kuzen Überblick über sein wirken, während der zweite Teil die auf seinen Arbeiten beruhenden Raumtransporterkonzepte skizziert.

EUGEN SÄNGER: EIN PORTRAIT


Eugen Sänger wurde am 22. September1905 im böhmischen Preßnitz geboren. Als Dreizehnjähriger wurde er von seinem Physiklehrer zur Auseinandersetzung mit der Raumfahrt angeregt, der ihm den Roman"Auf zwei Planeten" (Kurd Laßwitz, 1897) schenkte.

Eugen Sänger erarbeitete bereits in den 40er
Jahren die Grundlagen moderner Raumtransportsysteme

1923 begann er sein Studium des allgemeinen Bauingenieurwesens (Hoch- und Tiefbau)an der TH Graz; nachdem er Hermann Oberths Buch "Die Rakete zu den Planetenräumen" (1923) gelesen hatte, verlagerte er seinen Studienschwerpunkt gleich in Richtung Flugzeugbau, Statik und Konstruktion. In diesen Fächern legte er 1927 die erste Staatsprüfung ab.

Anders als die Raketenpioniere Oberth, Goddard und Ziolkowski war Sänger jedoch vom aeronautischen Weg zur Weltraumfahrt überzeugt, also der Weiterentwicklung von Flugzeugen zu Raumflugzeugen anstelle der Verwendung ballistischer Raketen. Diesen Weg zur Raumfahrt bezeichnete er als "Wiener Schule", denn auch die Österreicher Dr. Franz von Hoefft, Max Valier und Guido von Pirquet waren vom aeronautischen Weg überzeugt. Sänger hatte sog. "Lebensprogramme" angelegt, in denen er seine Ziele formuliert und die verwirklichten Punkte nacheinander abgehakt hatte. Diesem Plan blieb er sein Leben lang treu. Um 1929 formulierte er seinen Weg zur Raumfahrt wie folgt:

Im Sommer 1929 legte Sänger seinen Dissertationsentwurf "Raketenflugtechnik" an der TH Wien vor, in dem er den oben angeführten Weg als energetisch günstigste Methode zum Vorstoß ins All darlegte. Das "Raumboot" sollte dabei von der Erde aus nur bis zur Raumstation vordringen und im Gleitflug zur Erde zurückkehren. Diese Arbeit wurde als Dissertation jedoch abgelehnt.
Sänger promovierte Anfang Juli 1930 über die "Statik des vielholmig parallelstegigen, ganz- und halbfreitragenden, mittelbar und unmittelbar belasteten Fachwerkflügels". Doch er setzte seine Arbeit über Raketenflugtechnik kontinuierlich fort, von 1930 bis 1935 war er technischer Assistent bei Prof. Ringel am Institut für Baustoffkunde der TH Wien. Im Bauhof der TH richtete sich Sänger ein Raketenversuchslabor ein, wo er Flüssigkeitstriebwerke erprobte. Zunächst widmete er sich einer geeigneten Treibstoffkombination.
Er erzielte gute Resultate mit Kerosin/LOX, obwohl ihm bereits damals klar war, daß LH /LOX energetisch günstiger ist. Auf diesen Arbeiten basiert sein Buch "Raketenflugtechnik" (1933), das eines der Standardwerke der Raumfahrtliteratur wurde. Hierin finden sich erstmals exakte, wissenschaftliche Untersuchungen über ein Raumflugzeug, das Geschwindigkeiten von Mach 10 in Höhen von 60 bis 70 km erreichen sollte. Erst über 28 Jahre später, am 11.10.60, erreichte Robert White mit der X-15 eine Höhe von 65,5 km.

Es folgten Experimente zur Optimierung der Brennkammern, wobei unter anderem die regenerative Zwangskühlung mittels Röhrchentechnik entstand. Die zunächst noch sehr kleinen 50 bar Hochdrucktriebwerke, die mit Kerosin/LOX betrieben wurden und Ausströmgeschwindigkeiten von über 3000 m/s bei Temperaturen von 3000 C an der Brennraumwand erreichten, waren der Ursprung der modernen Raketentriebwerke, denn z.B. auch das US-Space-Shuttle besitzt Triebwerke, deren Düsen und Brennkammern durch Treibstoff gekühlt werden.

Doch es wurde für Eugen Sänger zunehmend schwieriger, Gelder für seine Forschungen zu erhalten, so daß er nach Deutschland ging. Ab 1. Februar 1936 arbeitete er bei der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof, ab Februar 1937 bei der Deutschen Forschungsanstalt für Luftfahrt (DFL) in Trauen in der Lüneburger Heide, wo er vom Reichsluftfahrtministerium den Auftrag erhielt, ein raketentechnisches Forschungsinstitut einzurichten. Am Trauener Forschungsinstitut, zur Tarnung offiziell als Flugzeugprüfstelle bezeichnet, konnten Raketen mit bis zu 100 t Schub getestet werden. 100 bar Brennkammerdruck und über 3000 m/s Austrittsgeschwindigkeit wurden erzielt.

Gesamtübersicht über einen Hochdruck-Brenkammerversuch in
Trauen; in halber Höhe rechts die Beobachterstände
 
 

Gleichzeitig wurden zwischen 1939 und 1944 Versuche mit Staustrahltriebwerken durchgeführt, zunächst auf einem LKW, später auf einer Do-217 E-2. Die Triebwerke besaßen Leistungen bis zu 20000 PS. Weiterhin wurden eine optimierte Rumpfform und ein keilfömiges Flügelprofil für ein Hyperschall-Raketenflugzeug erarbeitet.

Erstmals wurde auch die Gleitreibung von Metallen bei Geschwindigkeiten bis 800 km/h untersucht. Projektile wurden in eine kreisförmige Schiene geschossen, um Reibung und Andruck durch Fliehkraft zu erhalten. Die Versuche dienten der Vorbereitung eines Startschlittens für das projektierte Raketenflugzeug.

Neben den vielen Experimenten führte Sänger weiter theoretische Überlegungen zum erdnahen Raumflug mit geringstmöglichem Energieaufwand, einen sog. Rikoschettierflug, durch.
Die Ergebnisse wurden in einem Projektbericht "Über ein Raketen-Raumflugzeug" abgefaßt, das erweitert um militärische Kapitel 1944 unter dem Titel "Über einen Raketenantrieb für Fernbomber" erschien und zur geheimen Kommandosache erklärt wurde.
Das hierin beschriebene Raketenflugzeug wurde unter dem Namen "Silbervogel" bekannt. Modelle des "Silbervogels" wurden im Windkanal getestet; der Entwurf diente nach dem Krieg in einigen Ländern als Entwicklungsgrundlage, z.B. für die X-15 in den USA. Nach 1945 arbeitete Sänger als beratender Ingenieur in Frankreich, wo unter anderem das Versuchsflugzeug GRIFFON entwickelt wurde, das durch ein Staustrahltriebwerk mit einem Turbostrahltriebwerk im Zentrum als Starthilfe angetrieben wurde. Diese Triebwerkskombination wurde auch noch vor jüngerer Zeit im Leitkonzept SÄNGER-2 für einen europäischen Raumtransporter favorisiert.
1950 war Sänger Mitbegründer der Internationalen Astronautischen Föderation IAF, der er von 1951 bis 1953 vorstand. In dieser Zeit setzte er sich intensiv für eine internationale Zusammenarbeit in der Raumfahrt ein. So konnte er im Februar 1956 auf der von ihm selbst organisierten "Internationalen Tagung über Staustrahlen und Raketen" in Freudenstadt im Schwarzwald die erste persönliche Begegnung zwischen den offiziellen Vertretern der sowjetischen und US-amerikanischen Satellitenprogrammen, L. Sedow und R. Porter, vermitteln.
Als Eugen Sänger 1954 nach Deutschland zurückgekehrt war, baute er sein Forschungsinstitut für Physik der Strahlantriebe (FPS) in Stuttgart mit zunächst noch kleinen Forschungsanlagen auf. Neben Versuchen mit Kleinststaustrahltriebwerken für Hubschrauberrotoren wurden aus der Zeit von 1955 bis 1961 vor allem seine Arbeiten über Heißwasserraketen als Antrieb eines Starthilfsschlittens für einen Raumtransporter bekannt. Dieser Raketentyp besitzt zwar durch den Betrieb mit stetig fallendem Druck und den Verdampfungsvorgang während des Austritts aus der Düse einen relativ geringen Wirkungsgrad, doch ist er in seinem Aufbau bestechend einfach: Wasser wird in einem Druckbehälter aufgeheizt und dabei unter Hochdruck gesetzt. Nach Öffnen eines Ventils strömt es durch eine Expansionsdüse mit hoher Geschwindigkeit ins Freie.
1961 wurde das damals gerade erst in vollem Umfang eingerichtete FPS e.V. der DVL unterstellt, Sänger wurde als Berater in Sachen "Raumfahrzeuge und Startbasen" bei der COPERS, einer Vorläuferorganisation der 1962 gegründeten European Space Research Organization ESRO eingesetzt. Sänger war nicht sehr glücklich über die schwerfällige Arbeitsweise der zwischenstaatlichen Organisationen ELDO und ESRO, deren Beschlüsse sich nicht immer mit seinen Ansichten deckten; doch von einer privatwirtschaftlichen Initiative westeuropäischer Firmen, die am 21. September 1961 zur Gründung von EUROSPACE führten, war er begeistert. Von 1961 bis 1964 erarbeitete er zudem Raumtransporterentwürfe bei der Fa. JUNKERS. Im Dezember 1962 wurde er als ordentlicher Professor an den neuen Lehrstuhl für "Elemente der Raumfahrttechnik" der TU Berlin berufen. Dieser Lehrstuhl war der erste reine Raumfahrtlehrstuhl an einer europäischen Hochschule. Im Wintersemester 1963/64 wurde Sänger zum Vorsitzenden der Abt. Flugtechnik berufen, doch schon am 10. Februar 1964 erlag er während einer Vorlesung einem Herzinfarkt.
Sein ganzes Leben lang hatte Sänger bei seinen Arbeiten an einzelnen Problemen nie die Sicht auf die Raumfahrt als Ganzes verloren und befaßte sich immer wieder mit den Möglichkeiten der Raumfahrt in fernerer Zukunft, so z.B. mit einem "Transkosmos-Großraumschiff" für 1000 Passagiere, sowie mit nuklearen und Photonen-Raketenantrieben für eine interstellare Raumfahrt, bei der auch die Einsteinsche Relativitätstheorie berücksichtigt wurde. Nicht zuletzt sah Sänger in der Raumfahrt einen Weg aus den Problemen einer ständig wachsenden Rüstung, der auch für die gigantischen Industrie- und Forschungsbetriebe akzeptabel ist. Mit dieser Ansicht stand er damals nicht allein, auch der Verhaltensforscher Konrad Lorenz führt diesen Gedanken in seinem Buch "Das sogenannte Böse" (dtv 1974) auf..

DAS RAUMBOOT (RAUMTRANSPORTER)

Sänger sah in der Realisierung seiner ersten Projekte des Stratosphärenflugzeugs und des Raumtransporters nur die ersten Schritte zur Verwirklichung von Raumfahrt, die er jedoch nicht überspringen wollte. So fanden sich in seinem schriftlichen Nachlaß Fragmente einer Studie"Raketen-Flugtechnik". Diese lieferte eine geschlossene Theorie über die sicherste und wirtschaftlichste Methode zum Erreichen des Weltraums (Raumtransporter - Außenstation - (Planeten-)Raumschiff ).
"Der Vorstoß mittels Raumtransporter nur bis in die Höhe der Außenstation, von dort aus weiteres Vordringen mit speziellen Raumschiffen; Raumbootaufstieg nach dem Prinzip minimaler Energie, Raumbootabstieg ohne Energie als Segler.. "
Auf der Grundlage vieler theoretischer Studien entstand am 3. Juni 1942 sein Patent betreffend "Gleitkörper für Fluggeschwindigkeiten über der Mach'schen Zahl 5". Dieses Patent beschrieb die Zelle seines Raketenflugzeuges, des oben bereits erwähnten "Silbervogels", später auch "Raketenbomber"genannt.
Dr. Sänger hatte die Idee, seinen "Silbervogel" mit Hilfe eines Raketen-Startschlittens auf eine Anfangsgeschwindigkeit von etwa 500 m/sec zu beschleunigen, um Treibstoff- und Behältergewicht zu sparen. Der Entwurf zeigte ein erdumkreisendes, einstufiges Raketenflugzeug mit 100 Tonnen Startgewicht, 90 Tonnen Treibstoffzuladung und Nutzlast, sowie einem Flüssigkeitstriebwerk für LOX-Verbrennung von Hochleistungstreibstoffen bei 100 atm Brennkammerdruck und 100 t Schub. Seine maximalen Flugleistungen sahen unter Voraussetzung semiballistischer Flugbahnen und eines spezifischen Impulses von 400 Sekunden wie folgt aus:
Fluggeschwindigkeiten am Ende der angetriebenen Flugphase von 8000 m/sec,
entsprechend dem Antriebsbedarf zum Erreichen der Zirkulargeschwindigkeit, bei einer Nutzlastkapazität von ca. einer Tonne;
Flughöhen im ballistischen Teil der Flugbahn bis zu 300 km;
Nutzlastkapazitäten für einen Transport bis zu den Antipoden (20000 km) bis zu acht
Tonnen;
Flugweiten bis zur einfachen Erdumrundung bei vier Tonnen Nutzlast oder zur
zweieinhalbfachen Umrundung bei einer Tonne Nutzlast.
Diese Flugleistungen wurden durch Anwendung einer von Dr. Sänger vorgeschlagenen semiballistischen Flugtechnik möglich, die später als "Rikoschettier"- oder "Hüpf"-Flug bekannt wurde, und bei der sich das Flugzeug an den dichten Schichten der Atmosphäre abprallen ließ wie ein flach über das Wasser geschleuderter Kieselstein. So konnten Gleitflugbahnen vom mehrfacher Reichweite gegenüber denen bei einem aerodynamischen Aufstieg erzielt werden.
Unter dem Einfluß des zweiten Weltkrieges wandelte sich das Konzept des Raumflugzeuges allerdings in das eines Raketenbombers.
 

Zeichnung des Sänger´schen Raketenbombers

Eugen Sänger´s Entwurf eines Raketenflugzeugs mit bis zu acht
Tonnen Nutzlast

"Bereichert" durch einige Kapitel über Bombenflugbahnen, Auftreffballistik und Angriffsarten, konnte so jedoch die Ausarbeitung des ursprünglichen Projekts weiterverfolgt werden. Dieses Projekt erregte nach dem zweiten Weltkrieg großes internationales Aufsehen und diente als Grundlage zu interessanten Entwicklungen, wie zum Beispiel der amerikanischen X-15 und natürlich dem Space Shuttle.
Rund 17 Jahre später, im August 1961, hatte Prof. Sänger im Rahmen eines Beratervertrags mit der Firma JUNKERS wieder Gelegenheit, sich mit seinem Lieblingsprojekt, dem Raumtransporter, zu befassen.
Seine Erfahrungen und Erkenntnisse auf dem Gebiet wiederverwendbarer Raumflugzeuge faßte er in einem umfangreichen Hausbericht "Vorläufige Vorschläge zur Entwicklung eines Europäischen Raumflugzeugs" der Firma zusammen.
Diese Vorschläge, aufgrund deren Eugen Sänger am 30. April 1963 die Leitung der Projektgruppen "Raumtransporter" in der EUROSPACE, einer ehemaligen Vereinigung europäischer Raumfahrtindustrien übernahm, betrafen Vorstudien zu einem kleineren, bemannten Transportflugzeug für Antipodenflug oder Transportmissionen in eine 300-km-Erdumlaufbahn, dessen charakteristische Grundannahmen wie folgt aussahen:
180 Tonnen Startgewicht; 2,3 Tonnen reine Nutzlast in Orbit; horizontaler Katapultstart mittels Heißwasser-Raketenantrieb; in der ersten Entwicklungsphase Zweistufigkeit mit LH/LOX-Raketenantrieb bekannter Bauart (I=430 sec), bzw. in der folgenden Phase Einstufigkeit bei Impulserhöhung des Abgasstrahls (bis zu I=540 sec) durch staustrahlartige Ummantelung des Flüssigkeitsraketenantriebs.
Den Hausbericht der Firma JUNKERS schloß er mit dem 32. Kapitel am Vormittag des 10. Februar 1964 -wenige Stunden vor seinem Tod- ab.
 
 

Zeichnung des JUNKERS Raumtransporterentwurfs RT-8

Dreiseitenbild des RT-8 von JUNKERS